100 Jahre katholische Kirchengemeinde St. Josef,
Oer-Erkenschwick, 1908
bis 2008
Pfarrer Clemens Kreiss, Karl-Heinz Wewers
*
Einhundert Jahre
katholische Kirchengemeinde ist eine spannende und wechselhafte Geschichte,
deren Darstellung den Rahmen einer Festschrift sprengt, eine Geschichte mit
vielen Höhen und Tiefen, mit Zeiten des Wohlstands, aber auch bitterer Armut und
zwei Weltkriegen mit seinen noch bis in unsere Zeit spürbaren Folgen. All dieses
hinterließ auch seine Spuren im kirchlichen Raum. Vieles hat sich in den
vergangenen hundert Jahren gewandelt, doch eines ist geblieben: Der Glaube an
den auferstandenen Herrn Jesus Christus. Denn Gemeinde ist kein Selbstzweck,
sondern steht immer im Dienst des gelebten und bezeugten Glaubens, Gemeinde ist
auch keine abstrakte Größe, sondern das Zusammenwirken aller, die sich hier –
ehren- oder hauptamtlich – engagiert haben und bis heute engagieren.*
Die
Zeit bis zur Gründung unserer Pfarrgemeinde und die Entstehung der Rektorats-
und Pfarrkirche St. Josef
Ursprünglich gehörte die Bauernschaft Erkenschwick seit Jahrhunderten kirchlich
zur Pfarrei St. Peter in Recklinghausen, während Rapen zu St. Amandus in Datteln
zählte.1899 wurde ein Teil von Erkenschwick und Rapen nach Horneburg umgepfarrt.
In dieser Zeit war das Gebiet der heutigen Stadt Oer-Erkenschwick fast
ausschließlich von der Land- und Forstwirtschaft geprägt. Erst mit dem Aufkommen
und dem Wachstum des Bergbaues in Erkenschwick setzte ein gravierender Wandel
ein. Am 2. Juni 1899 begann die Abteufung des Schachtes
I, des späteren Bergwerks Ewald-Fortsetztung, auf dem bereits 1908 etwas 1.500
Bergleute eine Beschäftigung gefunden hatten.
Dementsprechend erhöhte sich die Bevölkerung in diesen wenigen Jahren enorm und
stieg von 1409 Einwohnern (1899) innerhalb von zehn Jahren für das Gebiet der
heutigen Stadt auf 7.655 Einwohner an. Der große Bedarf an Arbeitskräften konnte
nur durch zahlreiche Zuwanderer aus den östlichen Provinzen, aber auch durch die
Zuwanderung von Ausländern, insbesondere Slowenen gedeckt werden. Für uns heute
fast unvorstellbar: Vor dem 1. Weltkrieg lag die Zahl der Einheimischen bei
lediglich 31 %. Damals mussten keine „Minderheiten“ integriert werden, sondern
nahezu gleichgroße Bevölkerungsgruppen sich einander annähern. Trotz der damit
verbundenen großen Probleme wurde hier der Grundstein für die nachhaltige
Entwicklung von Oer, Erkenschwick und Rapen gelegt.
Bedingt durch den starken Zuzug von Arbeitskräften
mit ihren Familien setzte ein reger Siedlungsbetrieb mit seinen noch heute das
Stadtbild prägenden Zechensiedlungen ein. Zur besseren Betreuung der neuen
Pfarrangehörigen wurde der Bau einer Kirche im Ortsteil Erkenschwick dringend
erforderlich. Bereits 1906 rief Vikar Pricking von Oer den „Kirchbauverein
Erkenschwick – Rapen“ ins Leben. Mit der Errichtung eines saalähnlichen
Notbaues, für den der Kirchbauverein die Bauerlaubnis erwirkt hatte, wurde gegen
den Widerstand des Horneburger Kirchenvorstands umgehend begonnen. In kürzester
Zeit konnte an der heutigen Kirchstraße die Notkirche durch den Bauunternehmer
Peter Tappe fertig gestellt. Am 3. Mai 1908 wurde sie dem heiligen Josef
geweiht. Mit dem Schreiben vom 1. Juli 1908 wurden Rektor Franz Althoff die
Wahrnehmung aller seelsorgerischen Aufgaben übertragen. Erst 1958 wurde das
Patronatsfest vom 19.3. auf den 1.5., das neu eingeführte Fest „Josef der
Arbeiter“ verlegt. Somit kann die Kirchengemeinde St. Josef 2008 auf die
100jährige Wiederkehr ihrer Gründung zurück blicken, wenngleich die Notkirche
zunächst als Rektorats- und Filialkirche der Pfarrgemeinde Horneburg geführt
wurde.
Es
begann ein reges Gemeindeleben. Der kath. Kirchenchor „Cäcilia“ wurde bereits
vor der Einweihung der
Kirche am 6.1.1908 gegründet, ihm folgten die Frauengemeinschaft
(damals „katholischer Frauen- und Mütterverein“) sowie die katholische
Arbeiterbewegung (damals „Arbeiterverein St. Josef“). Der ebenfalls ins Leben
gerufene Jünglingsverein ging 1926 in die „Deutsche Jugendkraft“ (DJK) über,
während vom Jungfrauenverein mangels Protokollbücher und sonstiger
Aufzeichnungen nur die Gründung und massive Einschränkungen aus der Nazizeit
überliefert sind. Der Gesellenverein (heute Kolpingsfamilie) entstand erst
1923/4, also in einer Zeit, in der es in Erkenschwick neben Arbeitern auch
Handwerker gab. Aufgrund der großen Sprachschwierigkeiten kann man davon
ausgehen, dass für viele Arbeiter ausländischer Herkunft der Gottesdienstraum
der einzige Ort war, wo sie eine Art Heimat fanden. Dass es dadurch aber zu
weiteren Kontakten und einer Art „Integration“ kam, ist nicht überliefert.
Die Rektoratskirche hatte als
Filialkirche der Pfarrgemeinde Horneburg nur drei Jahre Bestand. Nach wiederum
schwierigen Verhandlungen mit der Pfarrgemeinde Horneburg wurde am 31.03.1911
die Rektoratskirche zur eigenständigen Pfarrei St. Josef ernannt. Gebiete, die
bislang nach Oer und nach Datteln gehört hatten, wurden der neuen Gemeinde
zugeordnet.
Die Gemeinde zwischen den beiden Weltkriegen: Gute und schlechte Zeiten:
Wachstum der Gemeinde und Wirtschaftskrise
1912
tritt Pfarrer Frans Roters seinen Dienst an. Unter seiner Leitung wurde 1913 das
Schwesternhaus auf dem Grundstück der Kirchengemeinde errichtet. Die Aufgaben
übernahmen die Schwestern aus dem Orden der „Göttlichen Vorsehung“ aus Münster.
Dieses Haus war eine Reaktion auf die großen sozialen Probleme der neuen
Bergarbeitergemeinde – die Sozialfürsorge lag damals ausschließlich in den
Händen „freier Träger“, eben der Kirchen und Vereine. Im Schwesternhaus wurde
eine ambulante Krankenpflege, eine Kinderbewahranstalt, eine Handarbeitsschule
und seit 1926 ein Waisenhaus für zunächst 45 Kinder untergebracht. 1967 erfolgte
der dringend notwendige Neubau. Dieser wiederum wurde knapp 40 Jahre später, im
Jahr 2005 verkauft, weil er für die Belange der „stationären Jugendpflege“
längst nicht mehr ausreichend war. Die Kinder und
Jugendlichen leben heute ausschließlich in kleineren Häusern und Wohnungen in
Oer-Erkenschwick, Seppenrade und Gladbeck, die Verwaltung befindet sich im
ehemaligen ev. Pfarrhaus an der Schillerstr. Ein kleiner Konvent von zwei
Schwestern ist in unserer Gemeinde geblieben; beide engagieren sich noch im
Kinderheim und im Gemeindeleben.
Mit dem weiteren Anwachsen
des Bergbaues und der Errichtung weiterer großer Arbeitersiedlungen im
nordwestlichen Teil von Erkenschwick – 1914 zählt die Bevölkerung bereits 13.500
Einwohner - wurde schon bald eine weitere Kirche notwendig. In
Klein-Erkenschwick errichtete man zunächst einen Vereinssaal, der als Notkirche
diente. Von 1922 an wurde nach und nach auch an der Verschönerung unserer
Notkirche gearbeitet. Neben dem Aufbau eines Glockenturmes mit drei Glocken
wurde ein Gewölbe mit Säulen eingefügt.
Der massive Anstieg der
Bevölkerung erforderte eine Reihe von Maßnahmen in der Infrastruktur. Neben dem
Straßenbau war es vor allem die elektrische Straßenbahn (1909), die die
Mobilität der Bevölkerung verbesserte: Zunächst führte sie von Recklinghausen
nach Erkenschwick und ab 1913 bis nach Datteln. Weder der Krieg noch
verschiedene Streiks konnten den weitern Aufschwung des Bergbaues behindern, da
man die Kohle ja dringend benötigte. So erhöhte sich die Anzahl der
Belegschaftsmitglieder bis zum Jahr 1921 auf über 3 800 Mitarbeiter. Dennoch
litt die Bevölkerung in hohem Maße, da sämtliche Ressourcen für die
Kriegsführung und die Kriegsfolgekosten aufgewandt werden musste. Deshalb
bedeutete für die Bevölkerung die Nachkriegszeit keine wirtschaftliche Erholung,
war doch diese Zeit durch verschiedene Streiks, insbesondere aber durch die
französische Besatzung der Ruhr und durch die Inflation gekennzeichnet. Erst mit
Einführung der Reichsmark 1924 stabilisierte sich das wirtschaftliche Leben
allmählich wieder. Auch Privatpersonen bauten nun Häuser und halfen mit, den
großen Wohnungsbedarf zu decken. Das Handwerk kam in dieser Zeit zu seiner
ersten Blüte und geschäftstüchtige Einheimische und Händler eröffneten Geschäfte
um den nötigen Bedarf zu decken.
Franz
Roters wurde 1925 nach Olfen versetzt, sein Nachfolger wird der Kaplan und
Polenseelsorger Theodor Alt-Epping. 26 Jahre lang wird er die Gemeinde leiten.
Unter seiner Regie wurde insbesondere der Bau der Christus-König Kirche
vollzogen, die am 19.12.1929 durch den Weihbischof Dr. Scheifers eingeweiht und
zunächst Rektoratskirche wurde. Am 1.11.1951 wird Christus König eigenständige
Pfarrei.
Nach
Auflösung des Amtes Recklinghausen im Jahr 1926 wurde Oer unter Ausgliederung
von Sinsen mit Erkenschwick und Rapen zu einer neuen Gemeinde mit dem Namen
„Oer-Erkenschwick“ zusammengefasst, die zunächst dem Amt Datteln angegliedert
wurde. Inzwischen zählte die Gemeinde 15.433 Einwohner, die Kohleförderung stieg
auf über 1,1 Mill. Tonnen, die Belegschaft der Zeche wuchs auf rund 4.200
Beschäftigte. Diese Blütezeit dauerte nicht lange an. Die Zeche musste mit
Absatzschwierigkeiten kämpfen. Es kam zu immer neuen Entlassungen, bis am
1.7.1931 die Zeche von der völligen Stilllegung getroffen wurde; die Förderung
wurde erst im Jahre 1938 wieder aufgenommen. Ende 1932 lebten 9.945 Personen,
fast zwei Drittel der Gesamtbevölkerung von öffentlicher Unterstützung.
Oer-Erkenschwick gelangte in den Ruf, die „ärmste Gemeinde Preußens“ zu sein.
Die Gemeindearbeit bestand in
dieser Zeit im Grunde genommen aus zwei Fundamenten: Aus sozialem Engagement
durch die verschiedenen Vereine - die Gründung des „Elisabethvereins“ Ende 1930
ist eine Reaktion auf diese unvorstellbare Verarmung eines Großteils der
Bevölkerung - und durch religiöse Unterweisung: Volksmissionen, religiöse
Wochen, Einkehrtage und vor allem Spendung der Sakramente. Dass das zu
deutlichen Spannungen in einer schon damals weltanschaulich pluralistisch
geprägten Stadt geführt hat, belegt ein Zitat aus der Pfarrchronik von Franz
Rahmacher aus dem Jahr 1935, der den Beginn der Dreißiger Jahre so beschreibt:
„… in einer Zeit, in der mehr denn je religiöser Hass und Intoleranz und vor
allem neuheidnischer Unglaube auf frivolste und zynischste Art Sturm laufen
gegen traditionelles, altererbtes Glaubensgut unserer christlichen Vorfahren…“
Der Chronist macht keine Andeutung, welche Strömungen er meint, wobei nicht
ausgeschlossen werden kann, dass er bereits die Gräuel der Nazis im Blick hat,
für deren Schreckensherrschaft auch die soziale Not und das sinkende Vertrauen
der Bürger in die zerstrittenen Parteien der Weimarer Republik zum Nährboden
wurde.
1933
- 1945 Wachsende Repressalien, das Elend des
2. Weltkriegs und Neuanfang
Schon bald nach der
Machtergreifung durch die Nationalsozialisten kam es zu Repressalien gegen die
katholischen Vereine. Unter anderem wurde 1936 der katholische Arbeiterverein
aufgelöst, die Fronleichnamsprozessionen wurden zunächst eingeschränkt und 1942
dann ganz verboten, die Lehrerschaft wurde hinsichtlich des Religionsunterrichts
an den Schulen stark unter Druck gesetzt, Pfarrer Alt-Epping wurde mehrfach von
der Gestapo vorgeladen, da ein Lehrer seine Predigten mitschrieb und sie an die
Gestapo weiterleitete. Es wurde ihm sogar der Prozess gemacht und ihm das KZ
angedroht, was er mit der Bemerkung abtat, dass er sich davor nicht fürchte. Am
8.9.1944 bedankt sich bei ihm Bischof Clemens August v. Gahlen: „Mit großem
Interesse habe ich Ihren Bericht an das Generalvikariat gelesen. Ich danke Ihnen
für Ihr recht priesterliches Handeln und Sprechen. Gott wird’s lohnen.“
Das kirchliche Leben
geschieht in dieser Zeit weitestgehend im „Binnenraum“, bemüht sich aber um
Normalität. Massive Einbrüche in der Gottesdienstbesucherzahl sind ab 1939 zu
verzeichnen. Bis zum Jahre 1945 wurde die Gemeinde Ziel etlicher alliierter
Bombenangriffe, die nicht nur der Zeche, sondern ebenso auch der Wohnbevölkerung
galten. Durch den Krieg waren 681 Gefallene und Vermisste zu beklagen. Mit der
Kapitulation und dem Einmarsch alliierter Truppen 1945 war der Krieg vorüber,
doch das Elend noch lange nicht beendet. Die Wohnverhältnisse waren in der stark
zerstörten Stadt katastrophal. Insbesondere fehlte es an Nahrung, Bekleidung
und Heizmaterial. Die Lage wurde noch dadurch erschwert, dass ca. 4.000
Flüchtlinge und Heimatvertriebene in der Gemeinde aufgenommen werden mussten.
Erst nach der Währungsreform im Jahre 1948 normalisierte sich das Leben langsam.
In kürzester Zeit wurde eine beachtliche Wiederaufbauleistung vollbracht.
Im
kirchlichen Leben findet 1949 nach 13 Jahren wieder eine Volksmission statt. Die
Einladung spricht eine deutliche Sprache: „Die modernen Weltanschauungen,
losgelöst von Gott und jeder sittlichen Ordnung … haben die Menschen in einen
hoffnungslosen Abgrund gestürzt.“ Die Mission für Erwachsene ist ein dichtes
Programm mit Missions- und Standespredigten, Hl. Messen und umfänglichen
Beichtzeiten. Die Kirchenbesucherzahl liegt allerdings schon damals nur noch bei
rund 30 %, Tendenz fallend: Die praktizierenden Katholiken befinden sich bereits
deutlich in der Minderheit.
„Die Welt geht in rasendem Tempo einer Neugestaltung entgegen“ (Michael Keller)
– Die Zeit des Wiederaufbaus – der Bau der St. Marienkirche und der Neubau von
St. Josef
Im
Mai 1951 wird Pfarrer Ludger Hartmer Nachfolger von Theodor Alt-Epping, der 1954
verstirbt. Eckpunkte seiner Arbeit sind der Bau des Kindergartens (1958) und der
St. Marienkirche in Rapen (1963) sowie der Neubau des Kinderheims (1969/70). Das
kirchliche Leben ist in dieser Zeit geprägt vom Wiederaufleben der Vereine und
Verbände, aber auch schon von Veränderungen in Glaubenstraditionen. Die „Laien“
übernehmen nicht nur durch den Kirchenvorstand, sondern auch in der
seelsorglichen Arbeit mehr Verantwortung. Die ersten Aufzeichnungen des
„Pfarrausschusses“ stammen aus dem Jahr 1954. 1961 wird anstelle des Pfarrers
ein Laie Vorsitzender des Pfarrkomitees, 1968 wird der erste Pfarrgemeinderat
gewählt. Gotthard Niebert wird Vorsitzender und diese Aufgabe bis 1977
wahrnehmen.
1964, so berichtet die Zeitung, geschieht die
Erstkommunionfeier in „neuartiger Form“: „Die Kinder kamen einzeln, jedes in
Begleitung von Vater und Mutter oder wenigstens eines Elternteils, die große
Wachskerze… fehlte überall… Kein Geheimnis, dass die Kinder über den Fortfall
der festlichen Abholung und der Wachskerze etwas traurig sind.“ Im gleichen
Jahr wird der Chorraum der Kirche umgestaltet. Der neue Altar, in „strenger
Einfachheit“, wie die Zeitung anmerkt, ist „so weit wie möglich nach vorn
gerückt“. Das Zweite Vatikanische Konzil ist nicht nur ein Aufbruch, sondern
auch und vor allem eine Antwort auf die bereits in den 50er Jahren deutlich
erkennbaren Probleme des kirchlichen Lebens, wofür der Rückgang der
Kirchenbesucherzahl nur eines von vielen Symptomen ist.
Am 1.1.1964 wurde St. Marien zum Pfarrrektorat und
bereits ein Jahr später zur selbständigen Gemeinde St. Marien ernannt.
Bestrebungen, in Rapen eine eigene Kirche zu bauen, gab es schon seit den
zwanziger Jahren. Der Wirtschaftsaufschwung ließ erwarten, dass auch dort eine
der damaligen „Idealgröße“ entsprechende 3000 Mitglieder starke Gemeinde wachsen
könne. Bischof Kellers Strategie waren grundsätzlich kleinere Pfarreien und
damit auch Teilung von so genannten „Mammutgemeinden“, was für ihn gleichzeitig
auch ein Weg zu sein schien, dem schon sich damals abzeichnenden Priestermangel
begegnen zu können. Dieser übergeordneten pastoralen Planung entsprach vor Ort
1950 die Gründung des Kirchbauvereins Rapen durch Rektor Clemens Höppe. 1958
konnte der Kindergarten eingeweiht werden, 1962 erfolgte der erste Spatenstich
der Kirche.
Das
nächste wichtige Ziel war es, für die 1908 errichtete Notkirche St. Josef einen
geeigneten Ersatz zu schaffen. Inzwischen waren Kirche und Pfarrhaus enorm
reparaturbedürftig, zudem stand durch die Abpfarrung von St. Marien die St.
Josefskirche nun ganz am östlichen Rand der neuen Pfarrgrenzen. Wie sehr die
Gemeindemitglieder an dem Bauvorhaben Anteil nahmen, beweist die
Spendenbereitschaft: Bis Oktober 1970 waren bereits 100 000 DM eingegangen.
Wegen der erforderlichen hohen Eigenleistung von 200 000 DM für das gesamte
Projekt erteilte das Generalvikariat zunächst eine Baugenehmigung mit der
Einschränkung, das Pfarrheim wegen der Finanzierung auf einen späteren Zeitpunkt
zu verschieben und auf einen Glockenturm zu verzichten. So wurde zunächst der Bau des
Kindergartens in Angriff genommen, der bereits am 15.10.1972 seiner Bestimmung
übergeben werden konnte. Parallel dazu entstand der Neubau der Kirche: Am
25.9.1971 wurde Richtfest gefeiert. Am 1.10.1972
weihte Bischof Heinrich Tenbumberg das von Prof. Schürmann
geplante neue Gotteshauses ein, ein in
seiner konsequenten Sachlichkeit bis heute umstrittenes, nicht nur in Fachkreisen hoch gelobtes,
aber auch irritierendes Gebäude. Pfarrer Hartmer brachte zum Ausdruck, was der
Neubau bedeutet: „Denn was nützt uns der schönste Neubau, wenn er nicht erfüllt
ist von lebendiger Gläubigkeit der Gemeindemitglieder“. Zum Abschluss des
Kirchweihfestes führte der Chor zusammen mit dem Vestischen Kammerorchesters
unter Leitung von Alfons Janca Rombergs Kantate „Die Glocke“ auf. Es folgte eine
Festwoche mit vielen Veranstaltungen, die mit einem Pfarrfamilienfest in der
Stadthalle ihren Ausklang fand.
Am
1.1. 1973 trat Ludger Hartmer nach 22jähriger Tätigkeit als Pfarrer in den
Ruhestand. 1976 feierte er sein goldenes Priesterjubiläum und erhielt im
gleichen Jahr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Bis zu seinem Tode am
17.6.1986 blieb er in der Gemeinde wohnen.
Während
dieser Zeit hatte sich auch unsere Stadt massiv verändert. Die wichtigsten
Ereignisse seien hier kurz angerissen: Im Jahre 1953 wurden der Gemeinde
Oer-Erkenschwick die Stadtrechte verliehen. Bis 1977 erhöhte sich die
Einwohnerzahl auf 26.000. Der Bergbau blieb nach wie vor von immenser Bedeutung.
1953 erreichte die Mitarbeiterzahl ihren Höchststand von 5.566 Beschäftigten.
Durch den Kauf des
Beckerschen
Hofes, der mitten im heutigen Stadtkern lag, sollte ein Stadtzentrum geschaffen
werden. 1960 wurde der „Berliner Platz“ dem Verkehr
übergeben. Rund um diesen Platz bauten private Investoren Wohn- und
Geschäftshäuser. Der Bau der Stadthalle (1963) war ein erster Abschluss dieses
Zentrums. Das Anwachsen der Bevölkerung machte auch im Bildungsbereich Neubauten
erforderlich. Besonders hervorgehoben seien hier die 1958 neu errichtete
Realschule und die Gründung des Gymnasiums (1981). Bei den Sport und
Freizeitstätten erlangten überregionale Bedeutung neben dem schon
existierenden Hallenbad mit seinen Turm- und Kunstspringern die „Freizeitstätte Stimbergpark“ (1968) und die Spielvereinigung Erkenschwick, die öfters mehr
Zuschauer anlockte als die Stadt Einwohner zählte.
Diese
Zeit des Wachstums konnte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass der Bergbau
und damit der mit Abstand wichtigste Arbeitgeber in der Stadt bereits in den
60er Jahren immer stärker in die Krise geriet. Ein gewaltiger
Umstrukturierungsprozess begann, der für viele Arbeitnehmer Umschulung,
vorzeitigen Ruhestand, befürchtete und tatsächliche Arbeitslosigkeit bedeutete
und vor allem Flexibilität verlangte. Ab 1977 wurde die im heimischen Grubenfeld
gewonnene Kohle nicht mehr in Oer-Erkenschwick, sondern durch einen
fördertechnischen Verbund auf der Schachtanlage Blumenthal in Recklinghausen zu
Tage gefördert. Im Jahre 1984 erfolgte die Stilllegung der heimischen Kokerei.
1985 wurde das Zechenkraftwerk geschlossen. Von der nächsten
Rationalisierungswelle 1992 wurde unser Bergwerk besonders hart getroffen, da
die Schachtanlage ihre Eigenständigkeit verlor und mit der benachbarten
Schachtanlage Blumenthal zusammengelegt wurde. Die noch lange gehegte Hoffnung
auf die Nordwanderung des Bergbaues wurde durch die nächste Kohlerunde 1997
begraben. Das Abbaufeld unter der Haard wurde stillgelegt und der noch 1983
errichtete Schacht in der Haard konserviert. Damit war Oer-Erkenschwick nach
fast 100 Jahren quasi keine Bergbaustadt mehr und eine lange Tradition ging zu
Ende.
Abschied von der Utopie Volkskirche – Profil in einem schwierigen Umfeld
Am 7.1.1973 wird Ernst Föcking als Nachfolger von
Pfarrer Ludger Hartmer in sein Amt
eingeführt. Von Anfang an war er bestrebt, das
begonnene katholische Pfarrzentrum durch geeignete Baumaßnahmen, aber auch durch
Verschönerungen, Ausschmückungen und Ergänzungen der Kirche zu vollenden. Die
Gemeinde hatte sich durch den Kirchbau finanziell so übernommen, dass sie das
Pfarrheim zunächst nicht bauen konnte, von einem Glockenturm ganz zu schweigen.
Durch weitere großzügige Spenden, Erlöse aus den jährlichen Pfarrfesten und
Weihnachtsbasaren und dem Verkauf des der Gemeinde gehörenden Küsterhauses
wurden die erforderlichen Eigenmittel für die Errichtung eines Pfarrheims mit
Pfarrsaal zusammen gebracht. Am 1.5.1977 konnte die Einweihung des Pfarrheims
der Gemeinde St. Josef durch Weihbischof Wilhelm Wöste vollzogen werden.
Erstmals nach 70 Jahren hatte damit die Gemeinde ein eigenes Pfarrheim
insbesondere für ihre Vereinen und Gruppen. Mit der Erstellung eines 120 qm
großen Pfarrsaals, einer Küche, mehrerer Gruppenräume sowie Wohnungen wurde das Bauvorhaben „katholisches Gemeindezentrum St.
Josef“ im Großen und Ganzen abgeschlossen.
Ergänzt wurde es zunächst 1983 durch den Glockenturm: Der Entwurf von Professor
Schürmann sah vor, in einem ca. 20 Meter hohen Stahlgerüst die drei noch
vorhandenen Glocken der alten St. Josef Kirche fest zu verankern. Pünktlich zum
75. Gemeindejubiläum wurde der Glockenturm errichtet. Nachdem in die Glocken ein
Anschlaggeläut eingebaut worden war, läuteten die Glocken erstmals wieder zum
Weihnachtsfest 1984. 1993 kam eine kleinere Kapelle für Beichte und
Gottesdienste mit kleinen Gruppen hinzu, die die Kirche mit der Sakristei
verband.
Am
1.8.1980 trat die erste Pastoralreferentin in unserer Gemeinde ihren Dienst an.
Frau Walburga Gries übernahm während ihrer achtzehnjährigen hauptamtlichen
Tätigkeit in unserer Gemeinde viele unterschiedliche Aufgaben und ist nach ihrer
Pensionierung bis heute ehrenamtlich tätig. Für die Gemeinde
war das der Beginn
einer neuen Entwicklung: Zum ersten Mal war eine so genannte „Laiin“ in der
Seelsorge tätig.
1999 geht Pfarrer Föcking nach Herten-Westerholt in
den Ruhestand. Neben der Westerbachschule, wo er mit den vierten Jahrgängen
Religionsunterricht und Schulgottesdienste gestaltete, lag ihm insbesondere das
Kinderheim am Herzen. Zudem war er sechs Jahre lang Dechant des Dekanats Datteln
und einige Jahre Pfarrverwalter von Horneburg. In der Chronik zum 90jährigen
Bestehen unserer Gemeinde nimmt er kritisch Stellung zu dem, was er in den 26
Jahren seiner Tätigkeit in der Gemeinde erleben und manchmal auch ertragen
musste. „Die Zeichen unserer Zeit – im Gegensatz zur rasanten
Aufwärtsentwicklung in Wissenschaft und Technik, in der Medizin und in der
Forschung – haben einen unübersehbaren Niedergang. Der Zerfall der Ehe und das
Zerbrechen menschlicher Gemeinschaften, das Verschwinden der öffentlichen Moral,
das Versinken in Rausch und Drogen, ein nie gekannter Verfall von Werten und
vieles mehr .Die Kirche leidet an einem schweren Vertrauensverlust. Der Glaube,
der einstmals von Generation zu Generation weitergegeben wurde, wird (oder kann)
von einer Elterngeneration, die diesen katholischen Glauben kaum noch
praktiziert, nicht mehr vermittelt werden.“ Dennoch kann er Abschied von
einer Gemeinde nehmen, die, wie er auch betont, in einem schwierigen Umfeld
lebendig geblieben ist und sich nicht zuletzt durch eine enorme
Spendenbereitschaft auszeichnet.
„Die Zukunft besteht nicht darin, dass man die Vergangenheit wieder erweckt“
(Jacques Gaillot) – viele Dinge im Fluss
Am 28.11. 1999 wird Clemens Kreiss neuer Pfarrer in
St. Josef. Schon damals stand außer Frage, dass der immer stärker werdende
Priestermangel auch die Kirchenlandschaft in Oer-Erkenschwick treffen und
verändern wird. 2000 verlässt der letzte Kaplan, Heinrich Plassmann, die
Gemeinde und wird Diözesanpräses des Kolpingwerkes. Einen Nachfolger gibt es
nicht. Der Pfarrgemeinderat beschließt eine noch stärkere Beteiligung von Laien
auch im gottesdienstlichen Bereich. Im Jahr 2000 übernehmen neben den Schwestern
und Frau Gries Frauen und Männer aus der Gemeinde den Dienst als
Kommunionhelfer. Georg Hülsken, der als Pastoralreferent der im Jahr 1998
ausgeschiedenen Frau Gries folgt, wird ebenso wie seine Kollegin Annegret
Rotthoff in den Pfarreien Christus König und St. Peter und Paul Beerdigungen
halten. Erwin Busen, vorher Pfarrer in St. Marien in Recklinghausen, wird 2001
zunächst Vicarius Cooperator (eine Art Hilfskaplan) und arbeitet auch nach
seiner Pensionierung 2006 in der Seelsorge weiter mit.
Liesner keinen Nachfolger bekommen wird. Der
Pfarrverbandsrat, das Leitungsgremium des bereits 1972 gegründeten Pfarrverbands
der vier Oer-Erkenschwicker Pfarreien, diskutiert die vom Bistum zur Beratung
vorgelegten Modelle der Kooperation bzw. Fusion. Auch aufgrund personeller
Veränderungen in den Nachbargemeinden ergibt sich – wenigstens für die nächsten
Jahre - die Einrichtung zweier „Seelsorgeeinheiten“. Möglichkeiten der
Zusammenarbeit werden überlegt und zum Teil auch realisiert (Abstimmung der
Sonntagsgottesdienstzeiten, Absprachen in der Erstkommunion- und Firmkatechese,
gemeinsam mit der evangelischen Gemeinde 2003 das „Jahr der Bibel“ und weitere
ökumenische Aktionen). 2004 werden auf Anordnung des Bischofs alle Pfarrverbände
aufgelöst: „Die Einrichtung von Pfarreiengemeinschaften und Seelsorgeeinheiten
und schließlich die Zusammenlegung von Kirchengemeinden machen die Existenz von
Pfarrverbänden weitgehend überflüssig.“ (Kirchliches Amtsblatt 2004, S. 100).
Nach dem Verzicht von Bernhard Liesner im Jahr 2002
auf das Pfarramt in St. Marien wird Clemens Kreiss zusätzlich
Pfarrverwalter in St. Marien. Die Pastoralreferenten Claudia und Georg Hülsken
werden für beide Gemeinden ernannt. Die Pfarrgemeinderäte von St. Marien und St.
Josef tagen zunächst gemeinsam, bis beide Gemeinden im Jahr 2005 nach den neuen
Statuten einen neuen „Rat der Seelsorgeeinheit“ wählen. Dieser umfasst deutlich
weniger Personen als die bisherigen Pfarrgemeinderäte und bedeutet eine
Verlagerung der Arbeit in die Sachausschüsse. In immer mehr Bereichen wird
Kooperation praktiziert. Die gemeinsame Fronleichnamsprozession und die
Pfarrfeste, die abwechselnd stattfinden, werden als große Bereicherung erlebt.
Die Kirchenchöre bündeln ihre Arbeit und proben und singen seit 2006 zusammen.
In anderen Bereichen wie der Seniorenarbeit und der KFD behalten die Gemeinden
ihre Eigenständigkeit. Eigenständig bleiben auch die Kirchenvorstände.
Seitens des Bistums kristallisiert sich als favorisierte Lösung immer deutlicher
die Fusion von Kirchengemeinden heraus, wie es auch in anderen Bistümern
geschieht. Dadurch soll der Rückgang der Kirchensteuermittel, aber auch der
immer stärker werdende Mangel an Priestern und inzwischen auch an
Pastoralreferenten aufgefangen werden. Zudem sollen durch Kooperation und
Fusionen die Kräfte gebündelt und dem Gefühl der Vereinzelung entgegengewirkt
werden. Damit steht das Bistum Münster nicht allein da. Im Nachbarbistum Essen
wird August 2007 die größte Gemeinde Deutschlands mit 40.000 Mitgliedern in Gelsenkirchen-Buer gegründet.
In
der Seelsorge zeichnet sich eine immer stärker werdende Kluft zwischen einzelnen
volkskirchlichen Formen und einer massiven Diasporasituation ab. Die
statistischen Zahlen sind weiter rückläufig, die Zahl der Taufen und
Eheschließungen ebenso wie der Gottesdienstbesuch, dessen Altersdurchschnitt
erkennbar steigt. Doch selbst die älteren Gottesdienstbesucher sind auch in
ihrer Generation längst eine Minderheit. Fast nahezu aus dem Bewusstsein
verschwinden das Bußsakrament und der Besuch der Gottesdienste an „kleineren“
Festen ohne staatlichen Feiertag sowie der Werktagsgottesdienste - auch bei den
älteren Gemeindemitgliedern, die noch in anderen Traditionen groß geworden sind.
Von
der Vergangenheit her betrachtet mögen solche Beobachtungen resignierend
klingen. Ohne Einschränkung ist der Feststellung Pfr. Föckings aus dem Jahr 1998
zuzustimmen: „Die Erklärung, dass nur die Kirchlichkeit abnehme, die Gläubigkeit
aber noch tief in der Seele verwurzelt sei, ist eine fromme Selbsttäuschung.“
Das Wort des französischen Bischofs Jacques Gaillot mag drastisch klingen, aber
es trifft den Kern der Sache: „Ein bestimmter Typus von Kirche liegt im
Sterben.“ – aber eben nur ein bestimmter Typus von Kirche, nicht die Kirche
selbst. Umso bemerkenswerter bleiben Aufbrüche und Versuche, dem kirchlichen
Leben neue Impulse zu geben. Vieles aus dieser Festschrift berichtet darüber und
muss hier nicht wiederholt werden. Im sozialen Bereich ist durch die Gründung
des „Ladens“ in Zusammenarbeit mit der evangelischen Gemeinde nicht nur ein
Projekt reibungsloser ökumenischer Zusammenarbeit entstanden, sondern auch ein
Beitrag gegen die immer stärker werdende Verarmung von Teilen der Bevölkerung,
der in unserer Stadt einzigartig ist. Auf Stadtebene werden systematisch
Gespräche mit Moslems und mit der evangelischen Kirche geführt. Im Vergleich mit
dem in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zurückgehenden
ehrenamtlichen Einsatzes gibt es immer noch eine erstaunliche Zahl von Menschen
aller Generationen, die zuverlässig und engagiert dafür Sorge tragen, dass
Kirche ein „Haus lebendiger Steine“ bleibt. Sie wissen, dass sie, wie es unser
Kirchengebäude ausdrückt, auf dem Glauben derer aufbauen, die vor ihnen gelebt
haben, damit andere wiederum weiterbauen können. Was wir in hundert Jahren
feiern werden, wissen wir nicht. Heute denken wir nicht nur an die
Vergangenheit, die von engagierten Gemeindemitgliedern geprägt worden ist,
sondern sind vor allem dankbar dafür, dass Kirche ein „Haus lebendiger Steine“
geblieben ist.
Karl-Heinz Wewers,
Clemens Kreiss
(C)
by
Karl-Heinz Wewers / WEBDESIGN
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